Werkschau KIRO RUSSO

IFFI #34

Grenzforschungen: Die dokumentarisch-experimentellen Expeditionen des bolivianischen Filmemachers Kiro Russo in die (Un-)Tiefen der Geschichte

Als Elders Vater stirbt, beschließt der Rest der Familie, den nichtsnutzigen Trunkenbold loszuwerden – und schon findet der junge Mann sich unter Minenarbeitern wieder, und die nächtlichen Aufnahmen einer Anden-Landschaft sind abgelöst von einer abstrahierend rasenden Mechanik-Montage. Männer mit Stirnlampen bohren Lichtlöcher ins Stockdustere, Hämmer knattern ins Gestein, dazwischen werden Koka-Blätter gekaut. Unter Mitwirkung von ortsansässigen indigenen Arbeitern in der bolivianischen Minensiedlung Huanuni entstanden, bildet VIEJO CALAVERA (DARK SKULL) den alltäglichen harten Überlebenskampf im und auf dem Berg ab und erzählt, rauschhaft-assoziativ, von einem, der sich anhaltend querlegt.

2016 erblickt dieser Langfilm-Erstling im Rahmen des Locarno Film Festivals das Licht der Leinwand, wird von über 80 weiteren Filmfesten eingeladen und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und die internationale Gemeinschaft der Cineast*innen merkt sich den Namen von Autor und Regisseur Kiro Russo. Dann dauert es fünf Jahre, bis der Bolivianer mit EL GRAN MOVIMIENTO (THE GREAT MOVEMENT) nachlegt und beim Festival in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury in der Sektion Orizzonti ausgezeichnet wird. Darin wird ein weiteres Kapitel im Leben des unter anderem vom Alkohol gebeutelten Bergmanns Elder erzählt: Diesmal ist er gemeinsam mit Kumpeln nach La Paz gereist, um gegen den Verlust seiner Arbeit zu demonstrieren. Um dort dann einstweilen über die Runden zu kommen, versucht er es mit einem Hilfsjob auf dem Markt. Als er Symptome einer seltsamen Krankheit entwickelt, ist eine gutherzige Alte, die Elder für ihr Patenkind hält, davon überzeugt, zu wissen, wer ihn heilen kann: ein bizarrer Eigenbrötler, der vielleicht ein Schamane ist. In der Folge trägt sich an der von Russo bevorzugt vermessenen Grenze zwischen dem Dokumentarischen und dem Fantastischen allerhand Seltsames und Überraschendes zu.

Seine Stoffe schöpft Kiro Russo aus der Wirklichkeit, aus dem Vorgefundenen und Unbehauenen – dann überhöht er das gewonnene Material mit dramaturgischen und ästhetischen Mitteln der Filmkunst zu einer Erzählung, die sich der Historie und ihrer Legenden bewusst ist, und das Potenzial des Mystisch-Mythischen in sich birgt. Lateinamerikas Vergangenheit mit ihren ethnischen und sozialpolitischen Verwerfungen grundiert Russos Werk und verleiht seinen Filmen ihre mehrschichtige Lesbarkeit. Etwa in der 2015 entstandenen kolonialgeschichtlichen Miniatur LA BESTIA (THE BEAST): Da hastet ein Indigener in den Anden über Stock und Stein und begegnet schlussendlich einem Pferd. Außer toller Landschaft und herrlichem Schwarz-Weiß nicht viel los – könnte man meinen. Doch ein Insert zu Beginn verortet das Geschehen ins „Imperio Incaico“ in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und damit in jene Zeit, in der Francisco Pizarro die Inka unterwarf und das Gebiet des heutigen Bolivien für Spanien besetzte und zu einem Teil des neuen „Vizekönigreichs Peru“ erklärte. Also begegnet hier der stellvertretende Ureinwohner symbolisch seinem Schicksal in Gestalt des Fortbewegungsmittels der aus Europa eingefallenen Eroberer.

Geboren 1984 in La Paz, absolviert Kiro Russo ein Regiestudium an der Universidad del Cine in Buenos Aires. Dort entstehen auch seine ersten Kurzfilme. Russo: „Alle Kurz- und Langfilme, die ich bislang gemacht habe, sind miteinander verbunden; der eine hallt im anderen wider und meine beiden Langfilme sind das Resultat und/oder Erweiterungen dessen, was ich in den Kurzfilmen versucht habe.“ So teilt JUKU (2012) – eine Stippvisite in der Zinnmine von Huanuni – den Handlungsort mit VIEJO CALAVERA, und die Vogelperspektive, aus der heraus die Kernfamiliengeschichte von NUEVA VIDA (NEW LIFE, 2015) gezeigt wird, verweist bereits auf die Panoramaaufnahmen, die in EL GRAN MOVIMIENTO La Paz vermessen.

Mit Huanuni und La Paz wählt Russo zudem Schauplätze, die in Oppositionen organisiert sind: Dem Innen-Außen des Minengebiets rund um den Berg Posokoni steht das Oben-Unten des bolivianischen Regierungssitzes gegenüber. La Paz wartet innerhalb seines Ausbreitungsgebiets mit einem Höhenunterschied von knapp 1.000 Metern und einem daran gekoppelten Temperaturunterschied von 6 °C auf. Das eigentliche, ursprüngliche La Paz liegt auf etwa 3.200 Metern in einem Kessel, der frühere Stadtteil El Alto, inzwischen eigenständig, in der westlichen Hochebene. Im Südosten ragt sodann mit fast 6.500 Metern der viergipfelige Illimani auf, der für einen spektakulären Anblick sorgt. Das Sozialgefälle verläuft in La Paz/El Alto kontraintuitiv: Die Armen siedeln oben, die Reichen unten. Da die extravaganten topografischen Gegebenheiten einen regulären Autoverkehr erschweren, erleichtern Seilbahnen Bewegung und Transport in den Städten. Es wird aber auch viel zu Fuß gegangen, treppauf, treppab gestiegen, und wer etwas zu befördern hat – und es sich leisten kann –, schickt seine Last mitunter per Träger durch die steilen, engen Gassen.

Zu sehen ist das schon in Russos erstem Kurzfilm ENTERPRISSE (2010), in dem eine große Cowboy-Figur auf die Bergwanderschaft geht und ihr Beförderer sich im Anschluss auf dem Rummelplatz in einem rasanten Fahrgeschäft belohnt. Und für die Carte blanche hat Russo unter anderen einen beeindruckenden La-Paz-Film seines Landsmanns Antonio Eguino ausgewählt: CHUQUIAGO (1977) ist ein soziologisch akkurates Porträt von Stadt, Politik und Gesellschaft in vier Episoden – und auch in seinem quasi dokumentarischen Charakter vorbildlich für Russo. Die beiden anderen Langfilme, die der Regisseur in der Werkschau seinen eigenen zur Seite stellt, stehen hingegen an der Schwelle zur (Ir-)Realität: MULHOLLAND DRIVE (David Lynch, 2001) und BU SAN (GOODBYE, DRAGON INN, Tsai Ming-liang, 2003) erkunden reale Orte (Los Angeles/ein altes Kino) ebenso wie den Fantasieraum, den diese beherbergen (Traumfabrik Hollywood/den Filmklassiker DRAGON INN von King Hu, 1967). Geschichtsbewusst öffnen sie dem Wundersamen das Gebiet, in dem es sich ereignen kann – wie auch Russos Filme es tun. Und wir dürfen über ihren zauberischen Reiz und Schrecken staunen.

AHENDU NDE SAPUKAI
AHENDU NDE SAPUKAI
Pablo Lamar
2008, Argentinien/Paraguay
MARTES DE CH’ALLA 
MARTES DE CH’ALLA 
Carlos Piñeiro
2008, Bolivien
MATERIAL BRUTO
MATERIAL BRUTO
Ricardo Alves Jr.
2006, Brasilien
ENTERPRISSE  
ENTERPRISSE  
Kiro Russo
2009, Bolivien/Argentinien
JUKU
JUKU
Kiro Russo
2011, Bolivien/Argentinien
NUEVA VIDA (NEW LIFE) 
NUEVA VIDA (NEW LIFE) 
Krio Russo
2015, Argentinien/Bolivien
LA BESTIA (THE BEAST)  
LA BESTIA (THE BEAST)  
Kiro Russo
2015, Bolivien/Argentina
VIEJO CALAVERA (DARK SKULL)
VIEJO CALAVERA (DARK SKULL)
Kiro Russo
2016, Bolivien/Katar
EL GRAN MOVIMIENTO (THE GREAT MOVEMENT) 
EL GRAN MOVIMIENTO (THE GREAT MOVEMENT) 
Kiro Russo
2021, Bolivien/Katar/Frankreich/Schweiz
MULHOLLAND DRIVE 
MULHOLLAND DRIVE 
David Lynch
2001, USA/Frankreich
BU SAN (GOODBYE, DRAGON INN) 
BU SAN (GOODBYE, DRAGON INN) 
Tsai Ming-liang
2003, Taiwan
CHUQUIAGO 
CHUQUIAGO 
Antonio Eguino
1977, Bolivien

Text von Alexandra Seitz