Retrospektive #34 - THIS IS NOT A MUSICAL RETROSPECTIVE

IFFI #34

Mit seinem Film WEST INDIES OU LES NÈGRES MARRONS DE LA LIBERTÉ (1979) verfolgte der einflussreiche mauretanische Regisseur Med Hondo das Ziel, „das Konzept der Musikkomödie von seinem amerikanischen Markenzeichen“ zu befreien. Damit wollte er seine Überzeugung betonen, dass alle Völker ihre „eigene musikalische Komödie, eigene musikalische Tragödien und ihre eigenen Gedanken, die durch die eigene Geschichte geformt werden“, besitzen.

Dieser Gedanke der Dezentrierung – der Rückgewinnung von Form und Ausdruck – steht im Mittelpunkt dieser Retrospektive. Die Filme nutzen das Musical, ein Genre, das lange Zeit mit Eskapismus und Unterhaltung assoziiert wurde, als Linse, durch die Subversion, Protest und historische Erinnerung erforscht werden. Anstatt sich an das Genre als Rezept zu halten, dehnen und verdrehen diese Filme die Möglichkeiten des Musicals und legen dessen politisches und poetisches Potenzial frei. Dies ist keine Musical-Retrospektive im Sinne der glanzvollen Hollywood-Produktionen. Diese Auswahl wirft ein Schlaglicht auf die Soundtracks, die in der Rezeption und Theorie oft zugunsten des Bildes vernachlässigt werden. Sie erkundet, wie Musik und Ton in Verbindung mit bewegten Bildern subversive Ideen jenseits der Genrekonventionen vermitteln können: Hier begleiten sie nicht nur das Bild, sondern prägen die Erzählung und werden zu Instrumenten des Protests, der kulturellen Affirmation und der historischen Abrechnung, die auf subtile Weise Erinnerung, Identität und politischen Ausdruck hervorrufen. Die Filme nutzen die transformative Kraft von Musik, Geräuschen und Stille, um Perspektiven zu beleuchten, die Worte und bewegte Bilder allein oft nicht vermitteln können. Sie flüstern Geschichten, die Kolonisatoren und Diktatoren zu begraben versuchten – und zelebrieren gleichzeitig, wie ermächtigend es wirken kann, gemeinsam zu singen.

Die filmischen Ansätze der Auswahl reichen von konventionellen und experimentellen Dokumentarfilmen bis hin zu Musicals, die manchmal die Konventionen des Genres sprengen oder überschreiten. Es gibt antikoloniale Hymnen, satirische Komödien oder A-cappella-Musicals und vielleicht sogar eines der ersten Musikvideos. In Anlehnung an das Festivalmotto THE PAST IS NOW finden wir Dialoge mit Vergangenheiten und möglichen Zukünften, mit denen eine neue Wahrnehmung der Gegenwart geformt wird – durch die Schaffung von Gegennarrativen, die Mittel der Satire und die Möglichkeiten der Montage. Drei thematische Schwerpunkte werden verdichtet: (1) der Kampf um Dekolonisierung, (2) Widerstand und radikale Solidarität und (3) die Politik des Zuhörens.

Die Retrospektive und der erste Schwerpunkt werden mit WEST INDIES OU LES NÈGRES MARRONS DE LA LIBERTÉ (1979) von Med Hondo eröffnet. Dieses extravagante afro-karibische Musical entlarvt mit Humor, Tanz und pointierter Kritik jahrhundertelange Ausbeutung und macht jedes Lied zu einem mutigen Akt des antikolonialen Widerstands. Der Befreiungskampf des angolanischen Volkes wird in MONANGAMBEEE (1969), dem ersten Kurzfilm von Sarah Maldoror, dargestellt. Während Maldoror darin das Schicksal eines politischen Gefangenen experimentierfreudig mit einem jazzigen Soundtrack des Art Ensemble of Chicago beleuchtet, erweckt die Schriftstellerin, Feministin und Filmemacherin Assia Djebar mit LA ZERDA OU LES CHANTS DE L’OUBLI (1982) die stille koloniale Vergangenheit Algeriens wieder zum Leben. Indem sie Archivbilder und nachhallende Klanglandschaften zu einer lyrischen Meditation über Erinnerung, Widerstand und die Geister der Kolonialherrschaft verwebt, macht sie dabei – so ihre eigenen Worte – „einen Film wie ein Musikstück“. In AMANDLA! A REVOLUTION IN FOUR-PART HARMONY (2002) des Dokumentaristen Lee Hirsch hingegen wird der lange Weg zum Ende der Apartheid in Südafrika nachgezeichnet – mit Fokus auf die einende und geschichtsverändernde Kraft des kollektiven Musizierens und Singens.

Mit dem zweiten Schwerpunkt bewegen wir uns thematisch in die Vereinigten Staaten. NOW! (1965) des kubanischen Regisseurs Santiago Álvarez wird sowohl als Propaganda als auch als Musikvideo beschrieben: Die rasante Montage kanalisiert den Bürgerrechtsprotest durch mitreißende Musik, während Lizzie Bordens BORN IN FLAMES (1983) mit der gleichnamigen Hymne eine intersektionale feministische Revolution präsentiert, eine Vision, die vom Punk befeuert wird. SCHOOL DAZE (1988) – Spike Lees zweiter Langfilm – ist ein temperamentvolles Campus-Musical, das sich mit Kolorismus, Klasse und Identität auseinandersetzt und die politischen und kulturellen Gräben innerhalb Schwarzer Communitys durch lebhafte Tanznummern und messerscharfe Satire aufzeigt.

Den dritten Schwerpunkt bildet der hypnotische Dokumentarfilm THE PEARL BUTTON (2015) von Patricio Guzmán, der in die Tiefen des chilenischen Meeres eintaucht und Geschichten über das Verschwinden von Ureinwohner*innen und die Gräueltaten der Diktatur miteinander verknüpft. Das Echo der Vergangenheit hallt darin in der Erinnerung des Ozeans nach. Das „Anti-Musical“ SEASON OF THE DEVIL (2015) von Lav Diaz spielt in der Zeit des philippinischen Kriegsrechts und orchestriert einen beunruhigenden Chor von A-cappella-Stimmen, die sich gegen die Tyrannei auflehnen. Jumana Manna begibt sich in A MAGICAL SUBSTANCE FLOWS INTO ME (2015) auf Reisen durch Israel und Palästina, um Musiker*innen verschiedener Glaubensrichtungen aufzunehmen, und untergräbt so die binäre Interpretation dieser Region.

Diese Retrospektive lädt uns ein, genau hinzuhören – nicht nur die Melodien und Rhythmen zu erfassen, sondern auch die Art und Weise, wie Musik und Ton als klangliche Zeugnisse dienen und die politischen und poetischen Konturen der Filme, die sie begleiten, prägen.

Ein lächelnder Mann, der eine rot-weiße, pelzbesetzte Krone und ein königliches Gewand trägt, sitzt auf einem Thron, und die Hände einer anderen Person halten die Lehne des Stuhls hinter ihm.
WEST INDIES OU LES NÈGRES MARRONS DE LA LIBERTÉ 
Med Hondo
1979, Frankreich/Algerien/Mauretanien
Eine Frau mit einem Handtuch auf dem Kopf umarmt einen Mann in der Nähe einer Tür und berührt sein Gesicht. Ein anderer Mann steht mit verschränkten Armen im Hintergrund und beobachtet die beiden. Die Szene ist in schwarz-weiß gehalten.
MONANGAMBEEE 
Sarah Maldoror
1969, Algerien
Eine in weißen Stoff gehüllte Person steht draußen, den Mund geöffnet, als ob sie schreien oder rufen würde. Schatten von nahen Gegenständen fallen auf ihr Gesicht. Das Bild ist in schwarz-weiß gehalten.
LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI (LA ZERDA UND DIE GESÄNGE DES VERGESSENS) 
Assia Djebar
1982, Algerien
Eine Gruppe von Menschen steht in einem Innenraum. Eine Frau im Vordergrund singt leidenschaftlich, mit offenem Mund und erhobenem Arm, umgeben von anderen, die engagiert und emotional zu sein scheinen.
AMANDLA! A REVOLUTION IN FOUR-PART HARMONY
Lee Hirsch
2002, Südafrika
Schwarz-Weiß-Foto einer schreienden Person mit dem Wort JETZT! quer über das Bild gemalt, um Dringlichkeit und Leidenschaft zu betonen.
NOW! 
Santiago Álvarez
1965, Kuba
Ein Mann mit Brille und Schnurrbart steht neben einer Frau mit voluminösem, gestyltem Haar. Beide tragen schwarz-weiße Jacken und posieren eng beieinander im Freien vor einem Backsteingebäude.
SCHOOL DAZE 
Spike Lee
1988, USA
Die schneebedeckten Berge erheben sich über einem ruhigen, spiegelnden Gewässer unter einem teilweise bewölkten Himmel, mit sanften Wellen auf der Wasseroberfläche in Ufernähe.
EL BOTÓN DE NÁCAR (THE PEARL BUTTON) 
Patricio Guzmán
2015, Chile
Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und spielt ein Streichinstrument, während ein anderer Mann in der Nähe steht. An der Wand hängen Karten und Papiere, auf dem Schreibtisch stehen ein Computermonitor und Büromaterial.
A MAGICAL SUBSTANCE FLOWS INTO ME 
Jumana Manna
2016, Palästina/Deutschland/Großbritannien
Eine Person mit Brille und geglättetem Haar steht vor einer Gruppe von uniformierten Soldaten und Zivilisten in einem schwach beleuchteten Raum, in dessen Mitte ein Stuhl steht und in dessen Hintergrund Fahnen zu sehen sind.
ANG PANAHON NG HALIMAW (SEASON OF THE DEVIL)  
Lav Diaz
2018, Philippinen

kuratiert von Fradique and Anna Ladinig