Retrospektive 2022
IFFI 2022 – 13.05.2022
EVERY STAR AND EVERY PLANET IS IN PLACE BUT YOU, PLANET EARTH ist aus Sun Ras afrofuturistischen Sci-Fi-Klassiker SPACE IS THE PLACE (1974) von John Coney abgeleitet. Dieser Film ist Teil der diesjährigen Retrospektive THE MULTIPLE EXPRESSIONS OF AFROFUTURISM, die Claire Diao für das IFFI #31 kuratiert hat. Sie präsentiert darin vielfältige Expressionen, die sich auf das multimediale Zusammenspiel zwischen Kunst, Film und Musik beziehen und die extraterrestrische Wende des Afrofuturismus mit nicht-westlichen Erkenntnissen darbieten. Ein zentrales Motiv bildet die über Generationen weitergetragene Ungerechtigkeit. Dabei steigert die nicht lineare Vorstellung von Raum und Zeit die Bildung neuer Perspektiven und ebenso die Möglichkeit einer gerecht(er)en Zukunft, die Handlungsmacht in der Gegenwart schafft.
THE MULTIPLE EXPRESSIONS OF AFROFUTURISM
Die in den USA während der Bürgerrechtsbewegung der 60er gegründete Afrofuturismus-Bewegung entstand, um die Erfahrungen afroamerikanischer und Schwarzer („afro-“) Darsteller*innen aufzuzeigen, denen meist keine Hauptrollen angeboten wurden. Wo Science-Fiction Klassenkämpfe mit ungerechten Gesellschaften durch das Empowerment der Ärmsten darstellt, widmet sich der Afrofuturismus der Repräsentation von Gesellschaften voller Diskriminierung und Rassenkämpfe, wo sich die Unterdrückten selbst mithilfe von Technologie befreien. Der Begriff „Afrofuturismus“ wurde jedoch erstmals 1993 vom amerikanischen Wissenschaftler und Kritiker Mark Dery in einem Artikel mit dem Titel „Black To The Future: Interview with Samuel R. Delany, Greg Tate and Tilcia Rose“ geprägt.
Die Bewegung fand in verschiedenen Medien Ausdruck. Am Anfang war der Comic: Ausgabe Nummer 52 der Fantastic Four von Stan Lee & Jack Kirby vom Juli 1966 zeigte zum ersten Mal den Black Panther.
Danach schrieb der amerikanische Jazzkomponist und Dichter Sun Ra, geboren als Herman Blount, gemeinsam mit Joshua Smith den Spielfilm SPACE IS THE PLACE. John Coney führte bei dieser 1974 veröffentlichten Reise zu einem anderen Planeten mit dem Arkestra Regie. Seither hat der Afrofuturismus zahlreiche Musiker*innen wie George Clinton oder später auch den französischen Künstler Gystère in seinen Musicals STRANGE BREATHIN und WOMXN, THE NIGHTMARE OF YOU KNOW WHO inspiriert.
Das Kino erweist sich als hervorragendes Medium für die Ergründung dieser Thematik, so wie Ryan Cooglers Black Panther, der 2018 von den Marvel Studios zum gleichnamigen Box-Office-Hit adaptiert wurde, der weltweit 1,3 Milliarden Dollar einspielte. Nach Space is the Place kam ein weiterer Alien, THE BROTHER FROM ANOTHER PLANET, unter Regie von John Sayles 1984, wo ein Schwarzer (brillant dargestellt vom stummen Joe Morton) mit außerirdischen Kopfgeldjägern im Schlepptau in Harlem landet und sich mit der Situation von Einwanderer*innen konfrontiert sieht.
Aus den USA entsprang 1998 sodann ein weiterer Marvel-Comic-Superheld. BLADE, unter Regie von Stephen Norrington, ist ein düsterer Superhero-Film mit einem Schwarzen Schauspieler (Wesley Snipes) in der Rolle eines Halbvampirs/Halbsterblichen. Aufbauend auf den Erfolg wird es ein für 2022/2023 geplantes Reboot mit Schauspieler Mahershala Ali geben.
2005 schaffte es der Kameruner Jean-Pierre Bekolo auf dem afrikanischen Kontinent mit THE BLOODETTES in die Schlagzeilen, einer afrofuturistischen politischen Satire, in der vampirische Femmes fatales hochrangige Beamte entmannen. Mithilfe von Bildmaterial und Science-Fiction sowie einem Mix aus Humor, Horror und Action unternahm Bekolo den Versuch, Amerika vom „Gefängnis der Vorstellung“ zu befreien.
Zwischen 2008 und 2020 widmeten sich Filmemacher*innen in Kurzfilmen auf höchst interessante Weise Science-Fiction und Afrofuturismus: vom postapokalyptischen Afrika (INHLAWULO von Lamar Bonhomme, Südafrika; HASAKI YA SUDA von Cédric Ido, Burkina Faso) bis hin zu futuristischen Orten, wo es kein Wasser (PUMZI von Wanuri Kahiu, Kenia) oder keine Menschen gibt (WHAT IF GOATS DIE von Sofia Alaoui, Marokko*); von einem Taucher (AL DJAZIRA von Amin Sidi-Boumédiène, Algerien) bis zu einem Astronauten (ETHEREALITY von Kantarama Gahigiri, Ruanda*) aus der Zukunft. Das Medium Film bietet auch die Möglichkeit, die Vergangenheit mithilfe von Robotern zu untersuchen (ROBOTS OF BRIXTON von Kibwe Tavares, UK), die Gegenwart durch Dorfbewohner*innen (KEMPINSKI von Neïl Beloufa, Frankreich), die nahe Zukunft durch mobile Geräte und verhexte Perücken (ZOMBIES von Baloji, Demokratische Republik Kongo, und HELLO RAIN von CJ Obasi, Nigeria*), die ferne Zukunft in einer Raumstation (THE GOLDEN CHAIN von Adebukola Bodunrin & Ezra Claytan Daniels, Nigeria) oder die Mischehe von Realitäten (PRECES PRECIPITADAS DI UM LUGAR SAGRADO QUE NÃO EXISTE MAIS von Rafael Luan & Mike Dutra, Brasilien). Und durch eine Satire über die Kunstwelt mit Jim Chuchus THIS ONE WENT TO THE MARKET* (Kenia).
Während die Ökonomie des Kurzfilms besser ohne Weltraumkulisse aufgeht (das Budget ist teilweise sehr niedrig), bieten auch Langfilme mitunter die Möglichkeit anderer Darstellungen von Schwarzen in der Zukunft: In Sharon Lewis‘ BROWN GIRL BEGINS (Kanada) muss eine karibische Priesterin ihr Volk retten. Der britisch-ghanaische Künstler John Akomfrah (THE LAST ANGEL IN HISTORY) blickt durch das Prisma der Dokumentation auf Daten, Musik und die Bedeutung von Afrofuturismus. In einem wahnwitzigen äthiopischen Filmset vermischt der spanische Regisseur Miguel Llansó (CRUMBS) die Zukunft mit kommerziellen Goodies unserer Zeit, während in NEPTUNE FROST, angesiedelt in Ruanda, der amerikanische Dichter und Sänger Saul Williams und die französisch-ruandische Schauspielerin Anisia Uzeyman über Musik die Liebesgeschichte zwischen einem Coltanminenarbeiter und einem*r Intersexuellen erzählen.
Bei dieser Retrospektive galt es, verschiedene Perzeptionen des Afrofuturismus zusammenzutragen, ausgehend von den USA in andere Länder, von den 70ern bis heute, von weißen Filmemacher*innen zu arabischen, lateinamerikanischen und karibischen – um einen Überblick darüber zu erhalten, wie sich Filmemacher*innen dieser Thematik angenähert haben. Und um sich zu fragen: Würde ein von einem*r weißen Filmemacher*in gedrehter Film (wie Coney, Sayles oder Llanso) als afrofuturistisch gelten? Wird ein*e arabische*r Regisseur*in aus Marokko (Alaoui) oder Algerien (Sidi-Boumédiène) als jemand gesehen, der*die einen „afro“-futuristischen Film macht? Und zu guter Letzt: Würde man andere Kontinente ähnlich benennen und zuordnen – Eurofuturismus, Asiafuturismus oder im Falle Österreichs Austrofuturismus? Reden wir darüber!
Claire DIAO / Kuratorin der Retrospektive
Die französisch-burkinabè Journalistin und Filmkritikerin Claire Diao studierte Wirtschaft, Politikwissenschaften und Film. Sie ist Initiatorin des Programms Quartiers Lointains, der Zeitschrift Awotélé und der Firma Sudu Connexion. Double Vague: Le nouveau souffle du cinéma français ist ihr erstes Buch. Sie ist Teil des Auswahlkomitees der Quinzaine des Réalisateurs.
[1] Quelle: https://www.encyclopedia.com/education/news-wires-white-papers-and-books/onwurah-ngozi-1966
* Diese Kurzfilme sind Teil von Afrofuturistik, der sechsten Reihe des Kurzfilm-Tourprogramms Quartiers Lointains, das jedes Jahr durch Frankreich, Afrika und den USA tourt.
Das IFFI – Internationales Film Festival Innsbruck findet von 24. bis 29. Mai 2022 in seiner 31. Auflage im cinematograph•leokino statt. Ausgewählte Festivalfilme sind per IFFI-Stream vom 30. Mai bis zum 8. Juni 2022 auf unserer Website verfügbar.