Retrospektive 2022

IFFI 202213.05.2022

EVERY STAR AND EVERY PLANET IS IN PLACE BUT YOU, PLANET EARTH ist aus Sun Ras afrofuturistischen Sci-Fi-Klassiker SPACE IS THE PLACE (1974) von John Coney abgeleitet. Dieser Film ist Teil der diesjährigen Retrospektive THE MULTIPLE EXPRESSIONS OF AFROFUTURISM, die Claire Diao für das IFFI #31 kuratiert hat. Sie präsentiert darin vielfältige Expressionen, die sich auf das multimediale Zusammenspiel zwischen Kunst, Film und Musik beziehen und die extraterrestrische Wende des Afrofuturismus mit nicht-westlichen Erkenntnissen darbieten. Ein zentrales Motiv bildet die über Generationen weitergetragene Ungerechtigkeit. Dabei steigert die nicht lineare Vorstellung von Raum und Zeit die Bildung neuer Perspektiven und ebenso die Möglichkeit einer gerecht(er)en Zukunft, die Handlungsmacht in der Gegenwart schafft.

Eine Person mit futuristischen Accessoires steht vor einer Wand mit alten Computermonitoren, auf denen blaue Bildschirme zu sehen sind, umgeben von freiliegenden elektronischen Bauteilen und in gedämpftem Licht.
NEPTUNE FROST
Saul Williams / Anisia Uzeyman
2021, USA/Ruanda
Ein Mann mit gelbem Hemd und orangefarbener Mütze blickt in einer Weltraumkulisse auf, hinter ihm ein riesiges rotes Wählscheibentelefon und im Hintergrund Sterne; auf einem Bildschirm ist rechts sein Gesicht zu sehen.
STRANGE BREATHIN
Gystère
2020, Frankreich
Eine Person mit Delfinmaske und Pilotenuniform telefoniert in einem Cockpit mit einem roten Telefon, während eine andere Person in einem bunten Raum steht und ebenfalls ein rotes Telefon in der Hand hält. Die französischen Untertitel lauten: "Contrôle au faciès à Boogie Wonderland !".
WOMXN, THE NIGHTMARE OF YOU KNOW WHO
Gystère
2019, Frankreich
Eine Person mit goldenem Kopfschmuck und einem farbenfrohen Gewand mit fließendem orangefarbenem und gelbem Stoff steht vor einem weißen Auto auf einer Straße, mit grasbewachsenen Hügeln im Hintergrund.
SPACE IS THE PLACE
John Coney
1974, USA
Nahaufnahme eines humanoiden Roboters mit einem metallischen, verwitterten Gesicht und freiliegenden mechanischen Teilen, der vor einem unscharfen Hintergrund nach unten blickt.
ROBOTS OF BRIXTON
Kibwe Tavares
2011, UK
Ein Mann ohne Hemd und eine Frau in einem blauen Gewand sitzen dicht beieinander und schauen sich in einem intimen Moment in die Augen. Die Frau berührt sanft das Kinn des Mannes, während die beiden eine zärtliche Verbindung eingehen.
THE BROTHER FROM ANOTHER PLANET
John Sayles
1984, USA
Eine Person, die ein ärmelloses Oberteil trägt, hebt beide Arme über den Kopf, während sie im Freien steht, mit verschwommenen Gebäuden im Hintergrund.
WELCOME II THE TERRORDOME
Ngozi Onwurah
1994, UK
Ein Mann mit schwarzer Sonnenbrille und Ledermantel steht selbstbewusst in einem blutbespritzten Raum, umgeben von Menschen in Rot, von denen einige schockiert oder verängstigt wirken.
BLADE
Stephen Norrington
1998, USA
Eine Person, die ein gelbes, drapiertes Gewand und eine grüne Gesichtsmaske trägt, streckt ihre Hand in Richtung der Kamera aus. Sie steht in einem schwach beleuchteten Raum mit Kerzen und Steinwänden im Hintergrund.
LES SAIGNANTES (THE BLOODETTES)
Jean-Pierre Bekolo
2005, Kamerun
Drei Personen befinden sich in einem offenen, staubigen Bereich. Eine Person sitzt auf einem selbstgebauten Wagen, eine andere sitzt auf einem Stuhl, der ihr abgewandt ist, und die dritte sitzt in der Nähe eines weißen Lieferwagens. Im Hintergrund sind Industrieobjekte und hohes Gras zu sehen.
INHLAWULO
Lamar Bonhomme
2018, Südafrika
Ein Mann mit zerzaustem Haar und einem Schulranzen steht neben einem überfluteten Bahngleis, auf dem zu beiden Seiten Wasser steht und in der dunstigen Ferne unter einem bewölkten Himmel Berge zu sehen sind.
CRUMBS
Miguel Llansó
2015, Spanien/Äthiopien
Eine Person steht im Dunkeln und hält eine vertikale Lichtröhre in der Hand, die ihr Gesicht beleuchtet, während eine Ziege und eine weitere Figur im schummrigen Hintergrund stehen. Der Text lautet: "Vom asiatischen Kontinent zum amerikanischen Kontinent".
KEMPINSKI
Neïl Beloufa
2010, Frankreich/Mali
Eine Person, die eine leuchtende, futuristische Brille trägt, sitzt in einem schwach beleuchteten Raum mit warmem orangefarbenem Licht und blickt auf einen hellblauen Computerbildschirm. Im Hintergrund sind abstrakte Formen und ein Monitor zu sehen.
THE LAST ANGEL OF HISTORY
John Akomfrah
2016, UK/Ghana
Eine Frau mit langem, natürlichem Haar steht nachts im Freien und trägt ein blaues Hemd und einen ledernen Brustpanzer. Sie sieht ernst aus, und im Hintergrund sind ein verschwommenes Gebäude und grünes Licht zu sehen.
BROWN GIRL BEGINS
Sharon Lewis
2017, Kanada
Eine Frau, die einen traditionellen Perlenkragen und eine geblümte Kopfbedeckung trägt, spricht zu einer kleinen Gruppe von Menschen in einem schwach beleuchteten Raum, während hinter ihr ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand hängt.
AFROFUTURISTIK
Sofia Alaoui / Jim Chuchu / Kantarama Gahigiri( / CJ Obasi / Baloji
2020, Marokko/Kenia
Eine Person in einem Schutzanzug steht allein vor einem nebligen, bläulich-grauen Hintergrund und scheint nach unten zu schauen oder etwas in der Hand zu halten.
AL DJAZIRA
Amin Sidi-Boumédiène
2012, Algerien
Eine Illustration einer Person, die einen bunten Planeten hält und ihn aufmerksam betrachtet. Der Hintergrund zeigt eine lebendige kosmische Szene mit Sternen, Planeten und wirbelnden blauen und violetten Farbtönen.
THE GOLDEN CHAIN
Adebukola Bodunrin / Ezra Claytan Daniels
2016, Nigeria
Eine leicht bekleidete Person steht auf einem Felsvorsprung unter einem blauen Himmel mit vereinzelten Wolken und blickt in die Ferne.
PUMZI
Wanuri Kahiu
2008, Kenia
Drei Personen sitzen bei Sonnenuntergang im Freien dicht beieinander. Die Person in der Mitte trägt eine Kopfbedeckung aus Muscheln und blickt nach vorne, während die anderen ihren Kopf auf ihren Schultern ruhen lassen und alle ruhig und nachdenklich wirken.
PRECES PRECIPITADAS DE UM LUGAR SAGRADO QUE NÃO EXISTE MAIS
Rafael Luan / Mike Dutra
2020, Brasilien
Zwei Personen in traditioneller Kleidung liefern sich auf einer Grasebene unter blauem Himmel einen Schwertkampf, wobei beide ihre Schwerter in dynamischen Posen über den Kopf heben.
HASAKI YA SUDA
Cédric Ido
2022, Frankreich

THE MULTIPLE EXPRESSIONS OF AFROFUTURISM

Die in den USA während der Bürgerrechtsbewegung der 60er gegründete Afrofuturismus-Bewegung entstand, um die Erfahrungen afroamerikanischer und Schwarzer („afro-“) Darsteller*innen aufzuzeigen, denen meist keine Hauptrollen angeboten wurden. Wo Science-Fiction Klassenkämpfe mit ungerechten Gesellschaften durch das Empowerment der Ärmsten darstellt, widmet sich der Afrofuturismus der Repräsentation von Gesellschaften voller Diskriminierung und Rassenkämpfe, wo sich die Unterdrückten selbst mithilfe von Technologie befreien. Der Begriff „Afrofuturismus“ wurde jedoch erstmals 1993 vom amerikanischen Wissenschaftler und Kritiker Mark Dery in einem Artikel mit dem Titel „Black To The Future: Interview with Samuel R. Delany, Greg Tate and Tilcia Rose“ geprägt.

Die Bewegung fand in verschiedenen Medien Ausdruck. Am Anfang war der Comic: Ausgabe Nummer 52 der Fantastic Four von Stan Lee & Jack Kirby vom Juli 1966 zeigte zum ersten Mal den Black Panther.

Danach schrieb der amerikanische Jazzkomponist und Dichter Sun Ra, geboren als Herman Blount, gemeinsam mit Joshua Smith den Spielfilm SPACE IS THE PLACE. John Coney führte bei dieser 1974 veröffentlichten Reise zu einem anderen Planeten mit dem Arkestra Regie. Seither hat der Afrofuturismus zahlreiche Musiker*innen wie George Clinton oder später auch den französischen Künstler Gystère in seinen Musicals STRANGE BREATHIN und WOMXN, THE NIGHTMARE OF YOU KNOW WHO inspiriert.

Das Kino erweist sich als hervorragendes Medium für die Ergründung dieser Thematik, so wie Ryan Cooglers Black Panther, der 2018 von den Marvel Studios zum gleichnamigen Box-Office-Hit adaptiert wurde, der weltweit 1,3 Milliarden Dollar einspielte. Nach Space is the Place kam ein weiterer Alien, THE BROTHER FROM ANOTHER PLANET, unter Regie von John Sayles 1984, wo ein Schwarzer (brillant dargestellt vom stummen Joe Morton) mit außerirdischen Kopfgeldjägern im Schlepptau in Harlem landet und sich mit der Situation von Einwanderer*innen konfrontiert sieht.

Aus den USA entsprang 1998 sodann ein weiterer Marvel-Comic-Superheld. BLADE, unter Regie von Stephen Norrington, ist ein düsterer Superhero-Film mit einem Schwarzen Schauspieler (Wesley Snipes) in der Rolle eines Halbvampirs/Halbsterblichen. Aufbauend auf den Erfolg wird es ein für 2022/2023 geplantes Reboot mit Schauspieler Mahershala Ali geben.

2005 schaffte es der Kameruner Jean-Pierre Bekolo auf dem afrikanischen Kontinent mit THE BLOODETTES in die Schlagzeilen, einer afrofuturistischen politischen Satire, in der vampirische Femmes fatales hochrangige Beamte entmannen. Mithilfe von Bildmaterial und Science-Fiction sowie einem Mix aus Humor, Horror und Action unternahm Bekolo den Versuch, Amerika vom „Gefängnis der Vorstellung“ zu befreien.

Zwischen 2008 und 2020 widmeten sich Filmemacher*innen in Kurzfilmen auf höchst interessante Weise Science-Fiction und Afrofuturismus: vom postapokalyptischen Afrika (INHLAWULO von Lamar Bonhomme, Südafrika; HASAKI YA SUDA von Cédric Ido, Burkina Faso) bis hin zu futuristischen Orten, wo es kein Wasser (PUMZI von Wanuri Kahiu, Kenia) oder keine Menschen gibt (WHAT IF GOATS DIE von Sofia Alaoui, Marokko*); von einem Taucher (AL DJAZIRA von Amin Sidi-Boumédiène, Algerien) bis zu einem Astronauten (ETHEREALITY von Kantarama Gahigiri, Ruanda*) aus der Zukunft. Das Medium Film bietet auch die Möglichkeit, die Vergangenheit mithilfe von Robotern zu untersuchen (ROBOTS OF BRIXTON von Kibwe Tavares, UK), die Gegenwart durch Dorfbewohner*innen (KEMPINSKI von Neïl  Beloufa, Frankreich), die nahe Zukunft durch mobile Geräte und verhexte Perücken (ZOMBIES von Baloji, Demokratische Republik Kongo, und HELLO RAIN von CJ Obasi, Nigeria*), die ferne Zukunft in einer Raumstation (THE GOLDEN CHAIN von Adebukola Bodunrin & Ezra Claytan Daniels, Nigeria) oder die Mischehe von Realitäten (PRECES PRECIPITADAS DI UM LUGAR SAGRADO QUE NÃO EXISTE MAIS von Rafael Luan & Mike Dutra, Brasilien). Und durch eine Satire über die Kunstwelt mit Jim Chuchus THIS ONE WENT TO THE MARKET* (Kenia).

Während die Ökonomie des Kurzfilms besser ohne Weltraumkulisse aufgeht (das Budget ist teilweise sehr niedrig), bieten auch Langfilme mitunter die Möglichkeit anderer Darstellungen von Schwarzen in der Zukunft: In Sharon Lewis‘ BROWN GIRL BEGINS (Kanada) muss eine karibische Priesterin ihr Volk retten. Der britisch-ghanaische Künstler John Akomfrah (THE LAST ANGEL IN HISTORY) blickt durch das Prisma der Dokumentation auf Daten, Musik und die Bedeutung von Afrofuturismus. In einem wahnwitzigen äthiopischen Filmset vermischt der spanische Regisseur Miguel Llansó (CRUMBS) die Zukunft mit kommerziellen Goodies unserer Zeit, während in NEPTUNE FROST, angesiedelt in Ruanda, der amerikanische Dichter und Sänger Saul Williams und die französisch-ruandische Schauspielerin Anisia Uzeyman über Musik die Liebesgeschichte zwischen einem Coltanminenarbeiter und einem*r Intersexuellen erzählen.

Bei dieser Retrospektive galt es, verschiedene Perzeptionen des Afrofuturismus zusammenzutragen, ausgehend von den USA in andere Länder, von den 70ern bis heute, von weißen Filmemacher*innen zu arabischen, lateinamerikanischen und karibischen – um einen Überblick darüber zu erhalten, wie sich Filmemacher*innen dieser Thematik angenähert haben. Und um sich zu fragen: Würde ein von einem*r weißen Filmemacher*in gedrehter Film (wie Coney, Sayles oder Llanso) als afrofuturistisch gelten? Wird ein*e arabische*r Regisseur*in aus Marokko (Alaoui) oder Algerien (Sidi-Boumédiène) als jemand gesehen, der*die einen „afro“-futuristischen Film macht? Und zu guter Letzt: Würde man andere Kontinente ähnlich benennen und zuordnen – Eurofuturismus, Asiafuturismus oder im Falle Österreichs Austrofuturismus? Reden wir darüber!

Claire DIAO / Kuratorin der Retrospektive

Die französisch-burkinabè Journalistin und Filmkritikerin Claire Diao studierte Wirtschaft, Politikwissenschaften und Film. Sie ist Initiatorin des Programms Quartiers Lointains, der Zeitschrift Awotélé und der Firma Sudu Connexion. Double Vague: Le nouveau souffle du cinéma français ist ihr erstes Buch. Sie ist Teil des Auswahlkomitees der Quinzaine des Réalisateurs.

[1] Quelle: https://www.encyclopedia.com/education/news-wires-white-papers-and-books/onwurah-ngozi-1966

* Diese Kurzfilme sind Teil von Afrofuturistik, der sechsten Reihe des Kurzfilm-Tourprogramms Quartiers Lointains, das jedes Jahr durch Frankreich, Afrika und den USA tourt.

Ein schwarz-weiß gepunktetes Bild mit dem Text: Jeder Stern und jeder Planet ist an seinem Platz, außer dir, Planet Erde. Oben erscheinen die Worte RETROSPEKTIVE / RETROSPECTIVE.

Das IFFI – Internationales Film Festival Innsbruck findet von 24. bis 29. Mai 2022 in seiner 31. Auflage im cinematograph•leokino statt. Ausgewählte Festivalfilme sind per IFFI-Stream vom 30. Mai bis zum 8. Juni 2022 auf unserer Website verfügbar.