Die diesjährige Retrospektive zum Motto WE ARE NOT ALONE
News – 14.05.2023
Schon seit seinen Anfängen im Jahr 1992 setzt sich das IFFI mit gesellschaftskritischen und politischen Fragestellungen auseinander, an die im Film auf vielfältige Weise verhandelt werden. Nicht nur die Themen einzelner Filme, sondern auch das Kino an sich bieten durch die Situation des kollektiven Sehens den Raum dafür, über das Politische im Film nachzudenken und verschiedenste Perspektiven auf kontroverse Debatten sichtbar werden zu lassen. Bereits im vergangenen Jahr wurde das Thema der Krise in Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen thematisiert.
Mit EVERY STAR AND EVERY PLANET IS IN PLACE BUT YOU, PLANET EARTH. trafen afrofuturistische Gegenentwürfe auf Fragen der Gerechtigkeit in krisenhaften Zuständen. Die diesjährige Retrospektive zum Motto WE ARE NOT ALONE! nimmt die immer drängenderen Herausforderungen des Klimawandels und der damit verbundenen sozialen Ungleichheit in den Blick. Die Filme zeigen die andauernde Krise nicht nur auf, sondern stellen die Frage, welche Alternativen es zu einem anthropozentrischen Weltbild gibt, in denen explizit die Verflechtung von menschlichen und nicht-menschlichen Welten hervorgehoben wird. Denn die Menschen sind nicht allein auf der Welt, sie sind nicht das Zentrum des Lebens – stattdessen plädieren die präsentierten Filme dafür, die Vernetzungen aller Lebewesen und das Miteinander in den Blick zu nehmen. Die ausgewählten Filme, deren Entstehungszeit von 1966 bis in die Gegenwart reicht, gehen ganz unterschiedlich an die großen Herausforderungen heran: Ob nun klassischer Dokumentarfilm oder experimentelles Kino, jeder Film gibt in seiner Art Denkanstöße zu WE ARE NOT ALONE. Die Besucher*innen tauchen so ein in die Welt der Mikroorganismen, entdecken neurobiologische Bilder, begleiten eine Tomate auf ihrer Reise durch eine kapitalistische Welt und begeben sich hinab in die Tiefe der Minen von Bergbaugebieten.
WE ARE NOT ALONE.
von Anna Ladinig und Michael Klingler
Der Begriff des Anthropozäns zeigt auf, dass wir zunehmend mit den Konsequenzen der desaströsen Annahme von der Beherrschbarkeit der Natur konfrontiert werden. Auf Basis der naturwissenschaftlichen Popularisierung der Menschheit als “geologische Kraft“ (Crutzen & Stoermer, 2000), fordern Alternativbegriffe und -narrative wie Ökonozän (Norgaard, 2013), Kapitalozän (Malm, 2016; Moore, 2016), Technozän (Hornborg, 2015), Plantagozän und Chthuluzän (Haraway, 2015) eine weitaus kritischere Reflexion des dichotomen Verhältnisses von Natur und Kultur bzw. die Überwindung dessen. Ein transformatives, relationales Denken, das nicht nur für eine Relativierung anthropozentrischer Sichtweisen plädiert, sondern ebenso das Ende des Konzepts der ‚Natur’ einläutet und die wachsende Untrennbarkeit von Natürlichkeit und Künstlichkeit zugunsten des Zusammenspiels unzähliger Inter- und Intra-Aktionen von multiplen Spezies betont. Diese fundamentale Kritik am Anthropozentrismus bedarf zum einen alternativer, mitunter radikaler Ideen und Konzepte, die sich im Zuge der planetarischen Umgestaltung dem lähmenden Narrativ von Apokalypse und ‚Akzelerationismus’ verwehren (Danovski & Viveiros de Castro, 2019). Stattdessen stehen die Anerkennung der Handlungsmacht und die Rechte von nicht-menschlichen Akteur*innen (Demos, 2016) im Vordergrund sowie das Miteinander der Arten und die Formen der Kollektivität zur Schaffung neuer Seins- und Zukunftsmöglichkeiten. Perspektivenwechsel demonstrieren animistische Ontologien und indigene Kosmologien, die auf Multinaturalismus und Perspektivismus gründen (Krenak, 2020), bis hin zu technologisch-ökologischen Hybridisierungen, die Bezug auf Lynn Margulis‘ revolutionäre Evolutionstheorie symbiotischer oder kooperativer Beziehungen zwischen Arten nehmen.
Zum anderen bedarf es auch alternativer Formen der Erzählung, welche die Vermittelbarkeit solch komplexer skalarer Zusammenhänge unterstützen. Das Medium Film und der Rezeptionskontext Kino verfügen über großes Potenzial, abstrakte und experimentelle Wechselbeziehungen in Form „sym-poietischer Gefüge“ (Haraway, 2015) ästhetisch zu übersetzen sowie spür- und erlebbar zu machen. In diesem Kontext richtet die Retrospektive #32 WE ARE NOT ALONE. ökologische Kritik an das Projekt der Moderne und bietet Alternativen bzw. Hoffnungsschimmer im Sinne einer „terrestrischen” (Latour, 2018) Rückbesinnung und Anerkennung von Koexistenzen, von in Symbiose lebenden menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen. Auf Basis einer bewussten Infragestellung unseres dominanten anthropozentrischen Weltbildes werden in 17 Filmen verschiedene Perspektiven ausgelotet, welche im Verlauf der Retrospektive die Dezentrierung dessen fördern und Handlungsmacht einer nicht-menschlichen Welt hervorheben.
Als Bestandsaufnahme filmischer Auseinandersetzung mit der Vorstellung, dass WIR ein Netz von komplexen, symbiotisch erzeugten und gleichberechtigt in Verbindung stehenden Lebensgemeinschaften darstellen, leitet der Film SYMBIOTIC EARTH (John Feldman, 2017) über das Leben und die Arbeit der Evolutionstheoretikerin und Biologin Lynn Margulis ein. Robert Bressons AU HASARD, BALTHAZAR (1966) gilt als einer der ersten filmischen Annäherungen, die menschliche Subjektivität zu relativieren und die, häufig grausame, Beziehung zu nicht-menschlichen Lebewesen am Beispiel eines Esels zu reflektieren.
Unterschiedliche Formen der Koexistenz greifen anschließend die experimentellen Beiträge des ersten Kurzfilmprogramms OBITALTELI (Arztavazd Pelešjan, 1969), PULSE (Robin Petré, 2016), OLHE BEM AS MONTANHAS (Ana Vaz, 2018), und LE TIGRE DE TASMANIE (Vergine Keaton, 2018) auf und demonstrieren, dass vor allem nicht-menschlichen Lebewesen sich gegen deren Auslöschung durch Wiederaneignung und Transformation zur Wehr setzen. Ana Vaz‘ zweiter Beitrag in der Retrospektive É NOITE NA AMÉRICA (2022) zeigt am Beispiel der jungen Stadt Brasília, wie unterschiedliche Lebewesen in einem Habitat Zuflucht suchen und welche Herausforderungen das Ziel zur Lebenserhaltung für alle Beteiligten birgt. Auf die Suche des Aufeinandertreffens und der Komplizenschaft begeben sich in BECOMING ANIMAL (2018) Emma Davie und Peter Mettler gemeinsam mit dem Philosophen David Abram im Nationalpark Grand Teton, um Intuition, Phänomenologie und Kritik am Anthropozentrismus als drei wesentliche Säulen des Denkens und Lebens zu verankern.
Eine Serie experimenteller, audio-visuell immersiver Zugänge bietet das zweite Kurzfilmprogramm, in dem mehr-als-menschliche und posthumane Welten erkundet werden. Diese reichen von der Beziehung zwischen Menschen und Tomaten (ILHA DAS FLORES, Jorge Furtado, 1989) bis zu seismischen Wellen, Schallfrequenzen und Hochebenen (ALTIPLANO, Malena Szlam, 2018) oder legen den Fokus auf das Sehen von Pflanzen (GESTURES TOWARD PLANTVISION, Sarah Abbott, 2021) und Spinnen (THE MULCH SPIDER’S DREAM, Karel Doing, 2018). Der animistischen Fähigkeit des Films folgend, die Bewegung von nicht-menschlichen Wesen zu sehen, die scheinbar träge und leblos sind, führt SHUKU SHUKUWE (Agostinho Manduca Mateus Ika Muru Huni Kuin, 2012) als Beispiel zeitgenössischen indigenen Filmschaffens aus Amazonien in die Kosmologie und existenzielle Verbundenheit mit Pflanzen der Huni Kuin ein.
Daran anknüpfend folgt eine Reihe von wissenschaftlich-künstlerisch kritischen Zugängen, welche zum einen die sozial-ökologischen Verwundbarkeiten durch das Zusammenwirken menschlicher und nicht-menschlicher Akteur*innen thematisieren. Zum anderen rücken sie im Sinne einer dekolonialen Zielsetzung vor allem die Persistenz und Souveränität indigener Wissenssysteme sowie deren Relevanz für eine Transformation in den Vordergrund. Verschiedene Wissensstränge über die Intelligenz der Natur, die Beziehungen zwischen Lebewesen und deren koexistenziellen Bedingungen werden in den GEOBODIES-Filmprojekten der Schweizer Videokünstlerin Ursula Biemann untersucht: indigen-technische Übersetzungsprozesse von Schallökologien arktischen Meereslebens (ACOUSTIC OCEAN, 2018), Methaphysik und DNA von Pflanzen tropischer Regenwälder (FOREST MIND, 2018) sowie verfassungsrechtliche Anerkennung von Natur und indigener Souveränität (FOREST LAW, 2014). Letzterer Beitrag ist auf Basis von Michel Serres „Der Naturvertrag“ (1994) in Kooperation mit dem brasilianischen Architekten und Wissenschaftler Paulo Tavares entstanden, der bereits mit NONHUMAN RIGHTS (2012) den Ansatz einer philosophischen Ökologie mit der These von radikalem Universalismus zwischen Menschen und Nicht-Menschen untersuchte.
Referenzen:
Crutzen, P., Stoermer, E. 2000. The „Anthropocene“. Global Change Newsletter, International Geosphere–Biosphere Program Newsletter, 41: 17–18.
Danowski, D., Viveiros de Castro, E. 2019. In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Berlin: Matthes & Seitz.
Demos, T.J. 2016. Decolonizing Nature. Contemporary Art and the Politics of Ecology. Berlin: Sternberg Press.
Haraway, D. 2015. Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin. Environmental Humanities, 6 (1): 159–165.
Hornborg, A. 2015. The Political Ecology of the Technocene: Uncovering ecologically unequal exchange in the world-system. In: Hamilton, C., Gemenne, F., Bonneuil, C. (Hrsg.). The Anthropocene and the Global Environmental Crisis: Rethinking modernity in a new epoch: 57-69. Abingdon: Routledge.
Krenak, A. 2020. A vida não é útil. São Paulo: Companhia das Letras.
Latour, B. 2018. Das terrestrische Manifest. Berlin: Suhrkamp.
Malm, A. 2016. Fossil capital: The rise of steam power and the roots of global warming. Brooklyn, NY: Verso Books.
Margulis, L. 2017. Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief. Westend: Frankfurt/Main.
Moore, J. 2016. Anthropocene or Capitalocene? Nature, history, and the crisis of capitalism. Oakland: PM Press.
Norgaard, R.B. 2013. The econocene and the California delta. San Francisco Estuary & Watershed Science, 11: 1–5.
Serres, M. 1994. Der Naturvertrag. Suhrkamp: Frankfurt.