LUMUMBA (2. American Film Festival, 1993)
Raoul Peck
Wenn jemand etwas als „wahre Geschichte” ankündigt, fürchtet er, dass ihm keiner glaubt. „Das ist eine wahre Geschichte”, steht im Vorspann von Raoul Pecks Film LUMUMBA, und eine Erzählstimme nimmt den mild pädagogischen Duktus auf. „Sag den Kindern nicht alles”, sagt diese Stimme, „sie würden es nicht verstehen”. Raoul Peck geht keine Umwege, um zu zeigen, was „den Kindern” über Jahrzehnte hinweg verschwiegen wurde. Zwei Männer in Uniform zersägen den Leichnam eines in Tuch gewickelten Mannes. Man sieht sein blutverkrustetes Gesicht; er ist schwarz, die ihn beseitigen, sind weiß. Sie lösen den Körper in Säure auf, verbrennen die Kleider. Nichts sollte bleiben von Patrice Lumumba, nicht einmal ein Grab: „Sogar tot mache ich ihnen Angst.” Wenn eine Figur die eigene Ermordung kommentiert, werden wahre Geschichten im Kino erträglicher. (Christina Bylow in: Die Zeit, 12. Juli 2001) Bei der Berliner Konferenz 1885 teilte Europa den afrikanischen Kontinent unter sich auf, der Kongo wurde zum persönlichen Eigentum des Königs Leopold II. von Belgien. Am 30. Juni 1960 wurde der junge Patrice Lumumba der erste Regierungschef in einem neuen, scheinbar unabhängig gewordenen Staat. Zwei Monate sollte er in seinem Amt bleiben, bis er mit tatkräftiger Unterstützung aus den USA und aus Europa ermordet wurde. Ihm folgte Kolonel Joseph Mobutu nach. Patrice Lumumba wurde zur Symbolfigur demokratischer Träume. „Immer mehr stellte sich heraus, dass Lumumba nicht nur Versprechen machte, wie andere Politiker dies zu tun pflegen, sondern er begann die Leute, aus Verbundenheit mit dem Volk, zu politisieren. Das machte ihn beliebt und begründete seinen Mythos. Lumumba ist dem Kalten Krieg zum Opfer gefallen. Deshalb wurde er auch als Kommunist bezeichnet, denn alles, was nicht für die Belgier war, war für den Kommunismus. Der Kongo sollte nicht dem sowjetischen Bären in die Hände fallen.” (Reginald Kessler, Dominikaner, Zeitzeuge und Weggefährte Lumumbas) Als ob die Verbindung hätte sichtbar gemacht werden müssen, wurde Diktator Kabila fast auf den Tag genau vierzig Jahre nach Lumumba umgebracht. Kabila war Gefolgsmann Lumumbas. Kabila schlug seine Wurzeln als Revolutionär in den Wochen nach der Unabhängigkeit, als es zu Wirren in der Provinz Katanga kam, und fortan sprach auch er oft und gern vom neuen Afrika, ehe er von der Macht besessen wurde. (Neue Zürcher Zeitung, 16. Februar 2001) Raoul Peck: „Was meint Unabhängigkeit in einer Welt, in der ökonomische und militärische Blöcke einander konfrontieren? Was bedeuten Demokratie, Einheit, Nation, Recht und Gesetz, wenn Konflikte zwischen Menschen und ethnischen Gruppen die öffentlichen Debatten ersetzt haben? Wie kam es, dass sich an Lumumba solche Brutalität, solcher Zorn entzündet haben? Warum wurde ausgerechnet er von all den Führerfigu-ren, die rundum ihren Machtbereich markiert hatten, von der Geschichte wegrasiert? Lumumba stört, er wirft Fragen auf, über vergangene und gegenwärtige Fehler. (…) 18 Monate lang diente ich als Kulturminister meines Landes Haïti. So erlebte ich harsche, erbarmungslose, politische Streitereien, in einem Land, das noch immer zwischen hegemonischem Populismus und Demokratie schwankt, geprägt von einer Entwicklung, in der das Wort ‚Demokratie’ nie über eine abstrakte Idee hinauskam. Nach dieser Erfahrung, die ebenso bereichernd wie spannungsvoll war, bin ich zu meinem Lumumba-Projekt zurückgekehrt. Es war eine Möglichkeit, über meinen Schmerz, meine Trauer, meinen Zorn hinauszukommen. LUMUMBA beschäftigt sich nicht mit lokalen Ereignissen, es ist die Geschichte einer Tragödie, die nie endet, die widerhallt in allen bekannten Tragödien in Afrika wie in Europa, von Ruanda bis Jugoslawien.” Raoul Peck wurde 1953 in Port-au-Prince auf Haïti geboren. Da sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annahm, lebte die Familie einige Jahre in Kinshasa. Raoul Peck studierte an der Filmakademie in Berlin. (Zusammenstellung der Texte: Helmut Groschup)
Kongo/Frankreich 2000; Regie: Raoul Peck; Buch: Pascal Bonitzer, Raoul Peck; Kamera: Bernard Lutic; DarstellerInnen: Eriq Ebouaney (Patrice Émery Lumumba), Alex Descas (Joseph Mobutu), Pascal N’Zonzi (Moïse Tshombe), Théophile Moussa Sowie (Maurice Mpolo), Maka Kotto (Joseph Kasa Vubu) u.a.; (35mm; Farbe; 115min; französische ORIGINALFASSUNG MIT DEUTSCHEN UNTERTITELN).