WE [STILL] MUST DISCUSS, WE [STILL] MUST INVENT.

IFFI 202022.10.2020

„We must discuss, we must invent […]“, heißt es am Anfang des Manifests „Hacia un tercer cine“ (dt. In Richtung eines dritten Kinos) von Octavio Getino und Fernando Solanas aus dem Jahr 1969. Das Zitat von Frantz Fanon leitet nicht zufällig die Forderung nach einem Kino der Befreiung ein, war Fanon doch einer der zentralen Vordenker der Dekolonialisierung. Das Motto der diesjährigen Retrospektive lehnt sich an das Fanon’sche Zitat an, verweist mit der Einfügung des [STILL] aber auch auf die Gegenwart und die Frage, ob die Forderungen als eingelöst betrachtet werden können.

Solanas und Getino prägten mit diesem Manifest den Begriff des Dritten Kinos, der bis heute als wichtige Referenz fungiert, auch wenn unterschiedliche Vorstellungen darüber vorherrschen, wofür er am Ende tatsächlich steht. So findet man den Begriff als synonym mit dem „Kino der Dritten Welt“ oder dem „militanten Kino“ verwendet. Im Manifest bleibt auch Platz für Widersprüchlichkeiten, nicht zuletzt, weil selbst die Autoren keinen Anspruch auf ein perfektes Konzept erheben. („Our time is one of hypothesis rather than of thesis, a time of works in progress – unfinished, unordered, violent works, made with the camera in one hand and a rock in the other.”) Nach Getino und Solanas stelle es ein Gegenkonzept zum Ersten Kino – dem Kino im Stil Hollywoods – und dem Zweiten Kino – dem europäischen Autorenfilm – dar. Im Gegensatz zu diesen handle es sich beim Dritten Kino nicht um ein Konsumgut und ebenso wenig diene es ausschließlich der Unterhaltung. Das Dritte Kino solle das Publikum aus seiner Passivität erwecken, müsse außerhalb der kapitalistischen Logik funktionieren und vielmehr Ursachen als Effekte aufzeigen. In seiner Wirkung glichen die Kamera und der Projektor des Dritten Kinos einer Waffe, die 24 Bilder pro Sekunde schösse.

Auch mit der diesjährigen Retrospektive wird nicht der Versuch gewagt, Antworten auf offene Fragen zu finden oder eine Definition des Dritten Kinos zu formulieren. Vielmehr bietet das Manifest und der damit eng verbundene Film LA HORA DE LOS HORNOS einen Eingang, von dem aus sich ein zeitlich und räumlich vielseitiges Panorama von Filmen erschließt. Filme, die sich auf unterschiedliche Weisen den Themen der Emanzipation, Befreiung und Selbstermächtigung nähern sowie auf deren immanente Heterogenität und Komplexität verweisen. Filme, die oftmals extrem schwierigen Produktions- und Distributionsumständen unterlagen und mannigfaltige ästhetische Formen von konventionellem Erzählkino bis hin zu experimentellen Formen abdecken und sich mit verschiedenen Facetten von Mechanismen der Unterdrückung und Ermächtigung auseinandersetzen Verbunden sind die gewählten Filme durch das allen zugrunde liegende Verständnis des Films als Träger emanzipatorischer Diskurse, als Motor der Veränderung und Mittel der Befreiung und Selbstermächtigung marginalisierter und unterdrückter Bevölkerungsgruppen. Eingesetzt wird Film mit unterschiedlichen Zielen: zur Agitation, zum Aufzeigen von ungleichen Machtverhältnissen und deren Folgen, zum Infragestellen der eigenen Sehgewohnheiten und Interpretationsmustern, zum Bewusstwerden über die Macht von Bildern und der anhaltenden Gefahr der Reproduktion ungleicher Machtverhältnisse, selbst durch das eigene Filmemachen, und um die Gedanken von zentralen Denker*innen zu vermitteln. LA HORA DE LOS HORNOS (1968), der didaktische Filmessay von Solanas, ist in drei Teile gegliedert und dauert als Ganzes über vier Stunden.

Im Rahmen – des IFFI zeigen wir den ersten Teil „Neocolonialismo y violencia“. Die Realisierung dieser Filmlänge ist besonders vor dem Hintergrund beeindruckend, als dass der Film vier Jahre lang im Untergrund gedreht und erst im Exil in Italien in seine endgültige Form gebracht werden konnte. Als er wieder nach Argentinien eingeschmuggelt wurde, fand er – obwohl verboten – über 100 000 Zuschauer* innen. Unabhängige Distributionswege ermöglichte auch die Gruppe Ukamau um Jorge Sanjinés im Bolivien der 1970er Jahre, nachdem die Gruppe aus dem Exil zurückkehrte. Auf diese Weise führten sie Filme wie LA NACIÓN CLANDESTINA (1989) von Jorge Sanjinés selbst in kleinen Gemeinden ohne Elektrizität fern der Hauptstadt vor. Zusätzlich bauten sie Ausbildungsmöglichkeiten in Film für Indigene und Campesinos auf. In LA NACIÓN CLANDESTINA arbeiteten bereits einige Absolvent*innen dieser Ausbildung mit. Neokoloniale Praktiken und Kontinuitäten werden vor allem mit Blick auf Senegal in drei Filmen vorgeführt. In Ousmane Sembènes erstem Kurzfilm BOROM SARRET (1963) sowie seinem ersten Langfilm LA NOIRE DE … (1966) werden anhand von individuellen Biografien Ausbeutungsmechanismen thematisiert, welche die Reproduktion sozialer Abhängigkeiten und Hierarchien selbst nach der Erlangung der Unabhängigkeit in Senegal aufzeigen. Trinh T. Minh-ha zwingt uns in REASSEMBLAGE (1982) mit einer Flut an dokumentarischen Bildern aus dem Dorfleben unsere eurozentrische Perspektive und unsere Interpretationsmuster zu reflektieren. Zugleich öffnet der Film ein Spektrum, das den ethnologischen Blick und den Anspruch dokumentarischer Autorität kritisiert und dabei die eigene Positionalität der Filmemacherin sowie die Unmöglichkeit einer neutralen oder objektiven Perspektive hinterfragt. In Horace Ovés BALDWIN’S NIGGER (1968) wird deutlich, dass Unterdrückung und das Potenzial des Kinos als Mittel der Ermächtigung ebenso im sogenannten Westen relevante Themen sind. Die eloquente Stimme des Bürgerrechtlers und Schriftstellers James Baldwin steht auch im Mittelpunkt von JAMES BALDWIN: THE PRICE OF THE TICKET (1989) von Karen Thorsen. In FRANTZ FANON: BLACK SKIN, WHITE MASK (1997) nähert sich der Künstler und Filmschaffende Isaac Julien kritisch dem antikolonialen Vordenker, Psychiater und Schriftsteller Frantz Fanon an, seinem Werdegang und Einfluss auf spätere theoretische Strömungen und Aktivist*innen. In CONCERNING VIOLENCE (2014) steht der gleichnamige Text von Frantz Fanon aus dem Buch „Les Damnés de la Terre” im Mittelpunkt, der Probleme nicht aufzeigen, sondern vielmehr als Handlungsanleitung dienen soll. Die dokumentarische Auseinandersetzung mit Archivmaterial steht bei OFF FRAME AKA REVOLUTION UNTIL VICTORY (2016), CONCERNING VIOLENCE (2014) und AFRICAN MIRROR (2019) im Vordergrund. Gemeinsam haben diese Kompilationsfilme, dass das Material durch die Montage und Kombination mit Tonspuren neue Bedeutungen erlangen. In OFF FRAME AKA REVOLUTION UNTIL VICTORY arbeitet Mohanad Yaqubi die palästinensische militante Filmpraxis zwischen 1968 und 1982 auf und zollt dabei dem von Jean-Luc Godard und der Gruppe Dziga Vertov initiierten Filmprojekt „Revolution Until Victory“ Tribut. Auch wenn dieses nie realisiert wurde, bietet Yaqubi vor allem jenes Bild in OFF FRAME AKA REVOLUTION UNTIL VICTORY eine Referenz, das sich außerhalb des Frames offenbarte – die Ermächtigung durch das Recht zur Selbstrepräsentation.

Freitag, 21: Oktober 2020-Retro